Die geistliche Musik von Mel Bonis (18581937) oder Erhebung durch die Musik

 Mel Bonis, Pseudonym für Mélanie Bonis (1858–1937), war eine der wenigen französischen Komponistinnen ihrer Zeit, die der Nachwelt ein umfangreiches musikalisches Werk hinterlassen haben. Die Pariserin aus bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen besuchte das Konservatorium in denselben Klassen wie Debussy und Pierné. Ihre Lehrer, Ernest Guiraud und Louis Auguste Bazille in den Klassen Harmonielehre, Klavierbegleitung und Komposition, lobten sie in den höchsten Tönen. Sie nahm als Gasthörerin am Orgelunterricht von César Franck teil. „Sie war so gut in Gregorianischem Choral, dass sie fremden Studenten, die manchmal am Unterricht teilnahmen, als Beispiel vorgestellt wurde“.

Nun ist eine Gesamtausgabe der geistlichen Musik von Mel Bonis in fünf Bänden im Furore Verlag erschienen: Motetten für vierstimmigen gemischten Chor, Motetten für zwei- und dreistimmigen Chor, Messe, Cantique de Jean Racine, geistliche und weihnachtliche Lieder. Daraus nachfolgend auszugsweise das Vorwort von Guillaume Avocat, Fachmann für religiöse Musik des französischen 19. Jahrhunderts.

Vol. 1: Motetten für 4-st. gemischten Chor
O salutaris, op. 131, Adoro te, op. 150-1, Inviolata, op. 163, Ave verum, op. 166-1, Tantum ergo, op. 167

Vol. 2: Motetten für 2- oder 3-st. Chor
Regina cœli,  op. 45, Sub tuum,  op. 132, Salve Regina,  op. 169, Panis angelicus,  op. 145, Ave Maria,  op. 176, Tantum ergo, op. 168, O salutaris, op. 188, Ave verum, op. 166-2

Vol. 3: Messen für 4-st. gemischten Chor
Messe a capella op. 164: Kyrie, Gloria, Sanctus, Agnus dei; Kyrié en fa # mineur, op. 170

Vol. 4: Kirchenlieder
Cantique de Jean Racine, op. 144 für vierstimmigen gemischten Chor, Tenorsolo, Harfe und Orgel; Zwei Lieder zur Erstkommunion: O mystère d’amour, op. 146, Troupe innocente, op. 142 für mittlere Stimme mit Orgelbegleitung; Prière de Noël, op. 44 für vierstimmigen gemischten Chor a cappella

Vol. 5: Melodien und Weihnachtslieder für eine Stimme mit Begleitung (Klavier, Orgel oder Harfe)
O Salutaris, op. 50. Adoro te,  op. 150-2, Ave Maria, op. 68, Allons prier, op. 73, Cantique à Marie,  op. 122, Noël pastoral,  op. 20, Noël de la Vierge Marie,  op. 54, Noël ancien,  op. 143

 In ihrem musikalischen Schaffen lässt sich Mel Bonis ganz von ihrer tiefen Gläubigkeit leiten; schöpferische Inspiration kommt für sie dem Zustand der Gnade gleich. Für Mel Bonis ist die Musik eine von ihrem Wesen her erhabene Kunst. Sie ist der beste Weg, einen Blick in die unerreichbare Welt Gottes zu werfen. Sie ist die Kunst, die durch ihre Abstraktion mehr als alle anderen die Möglichkeit bietet, sich dem göttlichen Wesen der Welt zu nähern und seiner immateriellen Dimension nahe zu kommen. Die Musik „gibt der ganzen Schönheit, der ganzen Wahrheit, der ganzen Leidenschaft Ausdruck. Das Ziel unserer ewigen Wünsche nimmt Form an; es streckt seine Arme nach uns aus und ist dennoch weit, sehr weit entfernt und wir erreichen es nie.“

Eine sehr persönliche geistliche Musik

Dem religiösen Denken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verpflichtet, entwickelt Mel Bonis eine empfindsame und innige, aber stets maßvolle Frömmigkeit. Dem Materialismus und dem positivistischen Rationalismus ihrer Zeit setzt sie sowohl in ihrem Leben als auch in ihrer Kunst ihre christliche Denkweise entgegen: „In unserer laizistischen, positivistischen, mitleidlos egoistischen Welt ist die Zärtlichkeit aus der Musik verbannt; stattdessen lässt man uns nachgeahmte Lokomotiven, Fußtritte usw. … und lächerliche Boleros schlucken.“ Maurice Ravels Boléro, den sie hier kaum verhüllt geißelt, Erik Saties Ballett Parade oder das Ballet mécanique von Georges Antheil, auf die sie hier indirekt anzuspielen scheint, sind aus ihrer Sicht Symptome einer Gesellschaft, die vom Materialismus einer von Gott losgelösten Welt geblendet ist. Der Avantgarde ihrer Zeit wenig zugeneigt, sieht Mel Bonis sich entschieden als Klassikerin. In ihrem künstlerischen Schaffen reiht sie sich in die Kontinuität ihrer Vorgänger ein, weit entfernt jedoch von jeglichem akademischen Rigorismus. César Franck, Gabriel Fauré und Théodore Dubois bilden für sie das Fundament einer sehr persönlichen geistlichen Musik, die sich durch ihre formale Schlichtheit, ihre maßvolle Expressivität und einen fantasievollen Rückgriff auf das Repertoire der alten Musik auszeichnet.

Eine hoch inspirierte Komponistin

Wenn man über die geistliche Musik von Mel Bonis spricht, taucht man also in die innere Welt ihres Glaubens ein. Alles, was sie hinsichtlich dieses Glaubens zum Ausdruck bringt, findet seinen Widerhall in ihren kompositorischen Grundsätzen und umgekehrt. Ihre geistlichen Werke sind musikalische Bilder, die sich an den großen Meistern ihrer Zeit orientieren und in denen sie ihrer bedingungslosen Liebe zu Gott Ausdruck gibt.

Mel Bonis‘ ist eine hoch inspirierte Komponistin, deren Fähigkeiten von ihren Zeitgenossen einhellig anerkannt wurden. So ist der historische Beitrag dieser Gesamtausgabe ein dreifacher: Sie bietet Musikliebhabern und Musikwissenschaftlern die Möglichkeit, das geistliche Werk einer späten Postromantikerin zu entdecken, das in einem eher ungewöhnlichen persönlichen Kontext entstand, das Wissen um komponierende Frauen zu erweitern und nicht zuletzt unser Verständnis ihrer Ausdrucksmittel zu vertiefen.

Gliederung der Gesamtausgabe

Wir unterscheiden in der vorliegenden Ausgabe vier Kategorien, gegliedert nach Herkunft und Art der Texte oder nach musikalischen Entscheidungen von Mel Bonis. In der ersten, auf französischen Texten basierenden Gruppe liegt der Schwerpunkt unbestreitbar auf dem Cantique de Jean Racine op. 145 für Chor, Harfe und Orgel. Es steht neben anderen Kompositionen auf eigene Texte und auf Texte ihrer Jugendliebe Amédée Louis Hettich, des Abbé Léon Rimbault und der Schulleiterin ihrer Tochter, Madeleine Pape-Carpantier. Das Ordinarium der Messe ist Grundlage für eine zweite, kleinere Gruppe. Mel Bonis komponierte ein Kyrie op. 170 und vor allem eine Messe a capella op. 164. Den Großteil des geistlichen Schaffens der Komponistin machen die Motetten für vierstimmigen gemischten Chor und für verschiedene Besetzungen mit zwei oder drei Stimmen aus.

„Heitere“ geistliche Musik

Immer wiederkehrende Themen in ihrem Werk sind Weihnachten, die Jungfrau Maria, Eucharistie und Kindheit. Wenn einige ihrer Kompositionen eine engere Verbindung zum französischen Liedschaffen zeigen, wie z. B. das O salutaris op. 188 oder das Ave Maria op. 68, zeichnet doch ein und dasselbe Ideal die vier Gruppen der oben zitierten Werke aus: Es ist eine „heitere“ geistliche Musik, ohne „oberflächlichen Glanz“ oder „Großspurigkeit“.

Die musikalische Mikrostruktur der Werke von Mel Bonis entspricht der des jeweiligen Textes, und die Vertonung hält sich an die Prosodie. Die Melodien sind in der Regel syllabisch und nach Versen gegliedert. Ihre Tonsprache beruht größtenteils auf Akkorden der Umkehrung der zweiten, dritten, vierten und sechsten Stufen, der ersten und dritten Umkehrung des großen Septakkords oder der letzten Umkehrung des Dominantseptakkords. Zwischen postromantischer Modernität und fantasievollem Bezug auf die alte Kirchenmusik vermischt sie feinsinnig Dur-Moll-Tonarten und Kirchentonarten. Der Beginn ihres Tantum ergo, op. 167 für Vokalquartett, über eine Melodie in A Mixolydisch, harmonisiert in D-Dur, ist ein perfektes Beispiel dafür.

 

Reinheit des Ausdrucks

In diesem Zusammenhang sei auch das Kyrie ihrer Messe erwähnt, in dem sie mit einer aufsteigenden Melodie in A-Dorisch bei den Einsätzen des „Kyrie eleison“ den Gregorianischen Choral nachahmt. Mit überraschenden Effekten fügt sie hier und da einige gewagte harmonische Elemente in einzelne chromatische Bewegungen ein und bricht so mit den Gewohnheiten der Meister, von denen sie sich hat inspirieren lassen, nicht ohne dabei manchmal an die Sprache von Lili Boulanger zu erinnern. Insgesamt zeichnet sich die geistliche Musik von Mel Bonis durch eine gewisse Reinheit des Ausdrucks aus, oft gepaart mit einem anmutigen und pastoralen, manchmal archaischen Tonfall. Sie ist letztlich das Beispiel einer tiefgläubigen Christin, die nach einer Musik sucht, die sie zum Göttlichen erheben kann und die Leere zwischen ihrer Zeit und der christlichen Tradition zu füllen imstande ist.

Guillaume Avocat

(Auszug aus dem Vorwort gleichen Titels der Editionsreihe Mel Bonis: Geistliche Vokalwerke in 5 Bänden)