Description
OEuvres pour piano/Klaviermusik/Piano Music
Edition en 10 recueils/Edition in 10 Bänden/Edition in 10 volumes
Vol. 7: Pièces pittoresques et poétiques C: 1910 – 1932
Besetzung: Klavier
Edition: Partitur
Herausgeber: Eberhard Mayer
Jahr: 1910-1932
Schwierigkeit: mittelschwer
Inhalt: Echo op. 89, Narcisse op. 90, L’ange gardien op. 99, Il pleut op. 102,
Au crépuscule op. 111, Près du moulin op. 115, Ariel op. 129, Dolorosa op. 138,
Une flûte soupire op. 117, Berceuse triste op. 118, Boston valse (valse lente) op. 119, Agitato op. 120, Cloches lointaines op. 121
Der vorliegende dritte Teil der Pièces pittoresques et poétiques enthält acht Einzelstücke, die nach 1910 entstanden sind, und fünf Stücke einer Sammlung, die 1929 bei Maurice Sénart in Paris unter dem Titel „Cinq pièces pour piano“ erschienen:
Einzelstücke
Echo op. 89 und Narcisse op. 90
Inspirationsquelle für beide Stücke ist eine Episode aus der griechischen Mythologie: die unerfüllte Liebe der Nymphe Echo zu Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat.
„Echo“ und „Narcisse“ wurden von Mel Bonis 1910 bei Maurice Sénart unter dem Pseudonym Henry Wladimir Liadoff veröffentlicht – vielleicht eine Anspielung auf ihren russischen Zeitgenossen Anatol Liadow. Wahrscheinlich ist der Rückgriff auf ein Pseudonym Ausdruck ihrer in dieser Zeit verstärkt auftretenden Selbstzweifel.
Die in „Echo“ durch oktavierte Wiederholung von Einzelnoten und Phrasen erzeugte Echowirkung durchzieht das gesamte Stück. Die harmonisch sehr gelungene, aber komplexe Struktur, das gemäßigte Tempo und sein „fließender“ Charakter machen
„Echo“ zu einem ästhetisch ansprechenden und ange-nehm zu spielenden Stück.
„Narcisse“ erschließt sich weniger leicht durch die Kompliziertheit des musikalischen Ablaufs mit sei-nen harmonischen Überraschungen und dem ständi-gen Wechsel des Metrums, die vom Interpreten Ein-fühlungsvermögen und ein hohes technisches Niveau verlangen.
L’ange gardien („Der Schutzengel“)
op. 102, postum
Das nur als Manuskript vorliegende Stück war offen-sichtlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Die drei Verse, die als Motto vorangestellt sind („Liebko-sung, die sich herabbeugt / Leichte Berührung eines weißen Flügels / Es ist dein Schutzengel“), stammen wahrscheinlich von Mel Bonis selbst und tragen zur lebendigen und gleichzeitig zärtlichen Stimmung des Stücks bei.
„L’ange gardien“ wurde erstmalig 2001 bei Armiane veröffentlicht. Das knapp dreiminütige Stück erfor-dert ein empfindsames Spiel, stellt aber keine hohen technischen Anforderungen.
Il pleut („Es regnet“) op. 102
Ganz offensichtlich ist das 1913 entstandene Stück „Il pleut“ eine vergnügliche Reminiszenz an Debus-sys zehn Jahre zuvor erschienenes Stück „Jardins sous la pluie“ („Gärten im Regen“). Erstaunliche Parallelen in Struktur und Inhalt legen diese Vermu-tung nahe: so etwa die Verwendung eines Volkslieds – „Il était une bergère“ bei Mel Bonis, „Dodo l’enfant
do“ bei Debussy – im Zentrum dieses kurzen Stücks.
„Il pleut“ wurde 1913 bei Maurice Sénart im Rahmen seiner Sammlung „La Musique contemporaine“ ver-öffentlicht. Es ist ihrer Tochter Madeleine gewidmet, die eine vorzügliche Amateurpianistin war.
Au crépuscule („In der Abenddämmerung“) op. 111
Mel Bonis widmet dieses Stück wie das vorherge-hende ihrer Tochter Madeleine. Das Manuskript trägt die Widmung: „Meiner kleinen Freundin Madeleine“ und das Entstehungsjahr 1922. Es wurde 1923 bei Hamelle in Paris veröffentlicht.
Das melodische Geschehen verteilt sich auf beide Hände, die sich auch in der Gestaltung der umspie-lenden Begleitfiguren abwechseln und so die sich verändernden Färbungen des Abendhimmels wiedergeben. Ein letztes Aufleuchten der Sonne wird durch ein poco a poco crescendo ed animato vorbereitet und mündet in ein piano subito, das der arpeggierenden Rückkehr zu Ausgangstonart und -stimmung voraus-geht. Das gut dreiminütige Stück ist von mittlerem Schwierigkeitsgrad.
Près du moulin („Bei der Mühle“) op. 115
In „Près du moulin“ glaubt man das Klappern des Mühlrads zu hören und fühlt sich vor allem im arpeg-gierenden Mittelteil in eine in impressionistischer Manier dargestellte Landschaft versetzt.
Das Stück wurde zuerst 1925 bei Maurice Sénart in Paris veröffentlicht. Es dauert etwa 2 ½ Minuten und ist hinsichtlich der Ausführung unproblematisch.
Ariel op. 129, postum
„Ariel“ gehört zu den Stücken, die die Zweifel der Komponistin während des Schaffensprozesses deut-lich widerspiegeln: Mehrere Versuche in unterschied-lichen Tonarten und Tempi wurden wieder verwor-fen, für eine eventuelle Veröffentlichung hatte Mel Bonis ein Pseudonym gewählt (Melás Benissouvski – eine scherzhafte Verfremdung ihres Namens). Schließlich blieb das letzte Manuskript von 1925, auf das sich diese Ausgabe stützt, in der Schublade lie-gen. Es ist ein Stück voller Charme, aber nicht leicht zu spielen.
Dolorosa op. 138, postum
Mel Bonis schrieb dieses Stück unter dem Eindruck des frühen Todes ihres Sohnes Edouard, der 1932 unter tragischen Umständen während einer Ge-schäftsreise nach Ägypten starb. Sie widmete es ihrer Schwiegertochter, der jungen Witwe Françoise Do-mange. In langen melodischen Linien mit nachschla-genden Akkorden bringt es den tiefen Schmerz über den Verlust des geliebten Sohns zum Ausdruck.
„Dolorosa“ erschien 2001 bei Armiane.
Cinq pièces pour piano à Madeleine Quinet
Etwa 40 Jahre nach den „Cinq pièces musicales“, die bei Durdilly erschienen, und 30 Jahre nach den „Cinq pièces“, die Leduc veröffentlichte (s. Pièces pittores-ques et poétiques A), erscheint 1929 ein neuer Zyklus von fünf Klavierstücken bei Maurice Sénart in Paris. Es sind kurze poetische Stücke. Auf dem Titelblatt des Manuskripts hat Mel Bonis mit Bleistift ver-merkt: „Cinq petites pièces pour piano (pas très faci-les)“ („nicht sehr leicht“). Das Werk ist wieder Made-leine gewidmet, aber jetzt unter ihrem Ehenamen: „A Madeleine Quinet“:
1) Une flûte soupire („Eine Flöte seufzt“) op. 117
Dieses erste Stück ist eine ganz im Geist des Impres-sionismus geschriebene Pastorale, deren einschmei-chelnde und verschlungene Melodik ganz dem Klangbild der Flöte entspricht, so wie es das auf dem Ma-nuskript von 1928 vermerkte Motto, ein Satz von Victor Hugo, ankündigt: „Viens, une flûte invisible soupire dans les vergers.“ („Komm, eine unsichtbare Flöte seufzt in den Gärten.“) 1936 erscheint in der Tat eine Version für Flöte & Klavier bei Maurice Sénart, Grundlage für die aktuelle Ausgabe des Stücks bei dem Flötenspezialisten Edition Kossack.
2) Berceuse triste („Trauriges Wiegenlied“) op. 118
Mit einfachsten Mitteln – einem schlichten nostalgischen Motiv, einem ruhigen Wiegen und einer Moll-Dur-Modulation – gelingt es der Komponistin, ein kleines Meisterwerk mit elegischer Grundstimmung zu schaffen.
3) Boston valse ou valse lente op. 119
In den vom Charleston bestimmten 20er Jahren hat sich Mel Bonis, die zu dieser Zeit modischen Einflüs-sen gegenüber nicht mehr sehr aufgeschlossen war, dennoch von den neuen Rhythmen dieser Jahre, die von Amerika herüber kamen, verführen lassen. Davon zeugen vor allem Passagen aus ihrem zweiten Klavierquartett ebenso wie dieser „Boston valse“, der in 38 Takten den Charme, die Jugend und die Lebens-freude dieser Zeit mit parodistischem Humor wieder-gibt.
4) Agitato op. 120
Dieses nicht einmal eine Minute währende Stück, das ständig zwischen Moll und Dur schwankt und – trotz der überraschenden Angabe „Allegretto“ – ein rasan-tes Tempo erfordert, erscheint wie aus einem Guss. Es stellt hohe pianistische Anforderungen an die Ausführenden.
5) Cloches lointaines („Ferne Glocken“) op. 121
Der Zyklus schließt mit einem Stück, das die Nähe zu Ravel verrät, aber auch von der Vorliebe der Kompo-nistin für leise Schlüsse zeugt (vgl. die „Suite orienta-le“ und die „Scènes de la forêt“). Seinen besonderen Charakter erhält es nicht nur durch die ausgefeilte Harmonik, sondern vor allem durch die pianissimo-Passagen von Anfang und Schlussteil, durch die bei geschickter Pedalisierung die Fernwirkung des Glockengeläuts erreicht werden soll.
Die stilistische Vielfalt der Klaviermusik von Mel Bonis, die sich aus der langen Zeitspanne ihrer Entstehung erklärt (1888-1937), vermittelt zudem den Eindruck, als habe sie einen Abriss der Klaviermusik im historischen Wandel zeichnen wollen. Die historischen Reminiszenzen werden dabei durch ihre persönliche Tonsprache in zeitgenössische Klänge verwandelt. Die Universalität und der Wert ihres Klavierwerks bilden eine wichtige Brücke von der Romantik zur französischen Postromantik, und viele ihrer Klavierstücke stellen durch ihren harmonischen Erfindungsreichtum einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des französischen Impressionismus dar. “Wie konnte es nur geschehen, dass diese Komponistin bis heute nahezu unbekannt geblieben ist? Beim Durchspielen des vorliegenden Bandes gerät man auf nahezu jeder Seite erneut in Begeisterung über die ausgereifte Qualität und die pure Schönheit dieser Musik. ….” (Piano News 2004)