Vor 200 Jahren bat Anton Diabelli 50 Komponisten über ein von ihm verfasstes Walzerthema je eine Variation zu schreiben – keine einzige Komponistin war unter den Tonsetzern. 1824 erschien dann der Sammelband mit dem Titel „50 Veränderungen der vorzüglichsten Tonsetzer und Virtuosen Wiens“. 200 Jahre später, am 5.11.2023, findet im Staatstheater Braunschweig eine außergewöhnliche musikalische Veranstaltung statt: Die 50-fache Uraufführung von Walzer-variationen für Klavier solo zum gleichen Walzerthema von Diabelli. Was dieses Ereignis besonders bemerkenswert macht, ist, dass die Variationen diesmal ausschließlich von 50 Komponistinnen aus 22 verschiedenen Ländern stammen. Das Projekt wurde von der Musikwissenschaftlerin Claudia Bigos aus Braunschweig initiiert.
Antonia Krödel:: Das Projekt „Diabelli Recomposed: 50 Variationen von Komponistinnen weltweit“ ist ein einzigartiges Projekt, das eine alte Idee Anton Diabellis aufgreift. Wie kam es zu der Idee einer neuen Fassung, die ausschließlich Variationen von Komponistinnen beinhaltet?
Claudia Bigos: Beethoven ist schuld! Anlässlich der weltweiten Feierlichkeiten zu seinem 250. Geburtstag wollte ich auch etwas Besonderes beisteuern. Im Zuge dieser Recherchen entdeckte ich, dass es neben den Diabelli Variationen op. 120 von Beethoven auch ein weiteres Heft zum gleichen Walzer-Thema mit 50 Variationen von Wiens besten Komponisten gab. Beim Sichten der Variationen entstand die Idee, alle 50 Stücke auf Schüler aus verschiedenen Musikschulen der Stadt zu verteilen, mit dem Ziel einer Gemeinschaftsaufführung. Fünf Variationen blieben über und da kam mir die Idee, diese wollte ich durch Variationen von zeitgenössischen Komponistinnen ersetzen, denn unter den 50 Stücken gab es keine einzige Variation von einer Komponistin. Bald entstand eine weitere Idee, nicht nur fünf, sondern gleich 50 Variationen in Auftrag zu geben. Das war der Anfang eines dreijährigen Abenteuers mit allen erdenklichen Höhen und Tiefen. Seit 10 Jahren bin im Vorstand des DTKV Braunschweigs und wir haben bereits so viele wunderbare Projekte wie z. B. die Reihe „Die Klänge der Frauen“ durchgeführt, warum nicht also ein Kompositionsprojekt?
:: Es war also zunächst ein Konzert geplant, später kam die Idee der Notenedition dazu, die jetzt im Furore Verlag erscheint. Das garantiert natürlich, dass diese Musik für noch mehr Menschen zugäng-lich wird. Aber eine Notenedition vorzubereiten ist etwas anderes als ein Konzert. Gab es hier neue Herausforderungen und wie konnten Sie diese meistern?
Die Aufführung der Stücke aus der Diabelli Sammlung fand leider wegen des Lockdowns nicht statt. Nach dem Aufruf in der Fachpresse bekam ich die ersten fünf Variationen. Das Komponistinnen-Projekt wurde geboren. Meine Motivation war sehr groß, die Resonanz auf das Projekt ebenso, bis dann die vielen unerwarteten Schwierigkeiten kamen. Es ist ein sehr langer Weg von der Idee bis zum fertig gedruckten Notenband. Ich bin sehr dankbar, dass der Furore Verlag auf Anhieb von der Idee begeistert und bereit war, die Herausgabe zu übernehmen. Damit die Edition finanziert werden kann, mussten per Crowdfunding Paten für jedes Stück gefunden werden. Hier merkte ich, dass das Projekt sehr polarisierte: Frauen, die komponieren? Ein unbekanntes Terrain. Nein, danke. Nach drei Monaten und vielen Mails hatte ich glücklicherweise fast alle 50 Patenschaften vergeben. Es wurde ein Auskunftsbogen verschickt, denn ich benötigte für die Edition auch Informationen über die Komponistinnen und teils über das eingereichte Werk. Das war eine sehr spannende Entdeckungsphase: zu den erhaltenen Kompositionen die so verschiedenen Lebensläufe der Komponistinnen zuzuordnen. Ich war begeistert!
:: Natürlich gibt es weltweit sehr viele Komponistinnen, darunter viele namhafte ebenso wie (noch) unbekanntere. Wie kam es zu der Auswahl der 50 Komponistinnen, die an diesem Projekt teil-genommen haben? Der Aufruf in der Fachpresse war der erste Schritt. In meinem Komponistinnen-Archiv gab es viele preisgekrönte Komponistinnen, die ich zuerst kontaktiert habe. Die Absagen waren schneller als erwartet da. Die Komponistinnen waren teils drei Jahre in Voraus ausgebucht oder hatten kein Interesse an diesem Projekt. Ich fing an, die Komponistinnen anhand meiner Kontakte zu Musikerinnen und Musikern auch im Ausland zu suchen und setzte auf ein Schneeballprinzip. Es funktionierte, aber es war sehr mühsam. Die Kontaktaufnahme über die Homepage der Komponistinnen ist oft daran gescheitert, dass sie von einem Manager vertreten werden, dessen erste Frage, bevor ich das Projekt vorstellen konnte, die nach der Gage war. Auf diese Weise scheiterten die Anfragen aus der Türkei, aus Is-land, aus Schweden und aus Japan. Alle teilnehmenden Komponistinnen haben dankenswerterweise eine Variation ohne Honorar beigesteuert. :: Jede Komponistin hat ihren eigenen Stil und es gibt unzählige Möglichkeiten, eine Variation von Diabellis Walzer-Thema zu schreiben. Gab es eine Aufgabenstellung, an die sich die Komponistinnen halten sollten? Ja, die gab es! Die Musik lebt von ihrer Vielfalt und ich wollte von Anfang an diese Vielfalt der kompositorischen Stile zeigen. Ich habe mich sehr an Diabellis Vorgaben orientiert. Angefragt war: eine Walzer-Variation zum Thema von Diabelli für Klavier solo, in der Länge von 32 Takten, im ¾-Takt, tonal oder atonal, im ei-genen Stil verfasst und in einem Notenschreibprogramm notiert. Ich merkte bald, dass jede Komponistin anders an die Auf-gabe heranging. Manche Variationen entstanden scheinbar noch am selben Tag.
Andere brauchten lange Zeit, um die Endfassung zu erstellen. Nicht alle Komponistinnen hielten sich an die Vorgaben. Mehrere Variationen waren entweder zu lang oder zu kurz, es entstanden sogar ganze Zyklen, die die angefragte Länge extrem sprengten. Es gab sogar ein 4-händiges Stück einer Komponistin aus dem Iran, das bedauerlicherweise nicht in die Edition aufgenommen wurde. Ich hätte gerne Diabelli über die Schulter geschaut, als er die Beiträge zu seiner Edition sichtete, denn auch die Komponisten interpretierten frei Diabellis Aufgabenstellung. Künstlerische Freiheit, eben!
::Die Uraufführung von „Diabelli Recomposed“ wird am 5. November 2023 im Staatstheater Braunschweig stattfinden. Wer wird hier spielen und wird es die Möglichkeit geben, weltweit das Konzert zu verfolgen?
Ich kann es kaum fassen, aber in der Tat findet die 50-fache Uraufführung der Variationen im Staatstheater Braunschweig un-ter der Schirmherrschaft der Generalintendantin Dagmar Schlingmann statt. Dank der Kooperation mit Prof. Ewa Kupiec von der HMTM Hannover wird die Aufführung professionell vorbereitet. Zehn Studentinnen aus ihrer Klavierklasse werden jeweils fünf Variationen vortragen. Ein aufwändig konzipiertes Programmheft führt durch das Konzert. Damit alle Komponistinnen und Musikfreunde weltweit der Uraufführung beiwohnen können, wird das Konzert gestreamt und, wenn alles gelingt, auch digital aufgenommen. Die nötigen Streaming Daten können kurz vor dem Konzert meiner Homepage klavierunter-richt-braunschweig.de entnommen werden. Ich bin selbst auf die Aufführung sehr gespannt. Mir ist bewusst, dass die Realisierung dieses Projektes an ein Wunder grenzt. Ich hoffe sehr, viele Menschen für diese Musik zu begeistern und danke allen, die mich auf diesem langen Weg unterstützt haben. Das Projekt steht von Anfang an unter einem guten Stern. Vielleicht steckt Beethoven dahinter, wer weiß? In seiner humanistischen Einstellung zur Welt, wäre er sicherlich dafür, dass man Musik von Männern und Frauen im Sinne der Parität und Diver-sität weltweit schätzt und feiert.
Das Interview führte Antonia Krödel.
Claudia Bigos stammt aus Beuthen in Oberschlesien. Seit 1985 lebt sie in Deutschland. Studium der Musikwissenschaft (Magisterarbeit zu den Klavieretüden Ignaz Moscheles’) und Französische Philologie an der Universität Göttingen. An der Musikschule Göttingen war Bigos Fachbereichsleiterin für Klavier. Als staatlich anerkannte Musiklehrerin ist Claudia Bigos seit 1990 als Klavierlehrerin tätig. Seit 2014 setzt sie sich für das Thema „Verkannte und vergessene Komponistinnen in der Musikgeschichte” ein und organisiert dazu Konzerte und Symposien. Claudia Bigos ist seit 2015 Jurymitglied bei „Jugend musiziert”.
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